01. Enero 2021

Zur Geschichte des Art. 15 GG

Eine Stapel Grundgesetsbücher
Foto: Pixabay

Unter den Gerüchten, die in Bezug auf unser Volksentscheid im Umlauf waren, war auch die Behauptung, die Enteignung der Immobilienkonzerne sei ‚undemokratisch‘. Das ist nicht nur kurios, da unser Anliegen ja darin besteht, die Berliner*innen durch eine Anstalt öffentlichen Rechts selbst über ihren Wohnraum entscheiden zu lassen. Ein Blick in die Geschichte zeigt auch, dass die Möglichkeit der Enteignung beziehungsweise Vergesellschaftung eng mit der Geschichte der Demokratie in Deutschland verbunden ist.

Die Geburtsstunde des Grundgesetzes

Nach dem Nationalsozialismus stand neben der politischen Neuordnung auch die Umgestaltung der bisherigen Eigentumsverhältnisse zur Debatte. Die Idee einer Vergesellschaftung von Wirtschaftsbereichen war dabei in der Bevölkerung populär. Den West-Alliierten war allerdings daran gelegen, dass sich der wirtschaftliche Status Quo (also die kapitalistische Wirtschaftsordnung) nicht wesentlich ändert. Im Parlamentarischen Rat, einer von elf deutschen Länderparlamenten der drei Westzonen gewählten Versammlung, sollte 1949 das Grundgesetz verabschiedet werden. Hier standen sich Anhänger der kapitalistischen Produktionsweise (also FDP, DP, ein Teil der CDU/CSU) und einer neuen sozialistischen Produktionsweise (KPD, SPD, Zentrum, ein anderer Teil der CDU/CSU) gegenüber. 

Doch wie konnte es dazu kommen, dass die Möglichkeit zur Vergesellschaftung schließlich im Grundgesetz verankert wurde? Die Antwort in Kürze lautet: Zeitdruck. Die Alliierten hatten ein Interesse daran, Deutschland zügig zu stabilisieren. Den Streit um die Vergesellschaftung voll auszutragen, war nicht denkbar. Es musste in überschaubarer Zeit und mit einer soliden Mehrheit eine provisorische staatliche Ordnung in den Westsektoren verabschiedet werden. Um eine Einigung zwischen Befürwortern und Gegnern der Vergesellschaftung zu ermöglichen und so das Grundgesetz zustande zu bringen, wurde mit Artikel 15 ein Kompromiss gefunden. Dieser liegt letztlich darin, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht für immer festgeschrieben wurde.

Zwar geht es im Artikel ausdrücklich nur um Boden, Naturschätze und andere Produktionsmittel. Der Verfassungsrechtler Wolfgang Abendroth betont aber, dass im „Gesamtzusammenhang kein Zweifel daran [besteht], daß er auf alle anderen Wirtschaftsgüter und Wirtschaftsgebilde (z.B. Banken, Versicherungen, Handelsunternehmungen, Reedereien usw.) genauso angewendet werden kann.“

Die Geburtsstunde des Grundgesetzes ist also die Zeit, in der die Möglichkeit einer demokratischen Verwaltung wichtiger Wirtschaftsbereiche festgelegt wurde. Darauf baut unsere Kampagne auf. Doch die Idee von Enteignung und Vergesellschaftung reicht noch weiter zurück.

Der Reichsrätekongress 1918

Die Idee der Enteignung ist Teil der (sozial-)demokratischen Geschichte: Bereits die Verfassung der Weimarer Republik beinhaltete einen Vergesellschaftungsparagraphen, der von beiden sozialdemokratischen Parteien (USPD und SPD) getragen wurde. Ein entsprechender Beschluss „zur Sozialisierung aller hierfür reifen Industrien“ wurde bereits 1918 vom Reichsrätekongress gefasst. Er war die erste ordentliche Zentralversammlung der Arbeiter:innen- und Soldatenräte nach der Novemberrevolution und tagte vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Gebäude des preußischen Abgeordnetenhauses in Berlin.

Hier wurde um das zukünftige politische System in Deutschland gestritten und radikale Forderungen zur Errichtung eines Rätesystems (vs. parlamentarische Demokratie) standen im Raum. Warum kam der Rätekongress zusammen? Nach dem Krieg hatte die kaiserliche Regierung ihre Autorität verloren. Zugleich sammelten sich Energien zu einem demokratischen Aufbruch, dessen Ergebnis der Kongress war. Nachdem Sozialdemokratie und Gesellschaften durch ihr Mittun an der Kriegswirtschaft an Ansehen verloren, wuchs das Bedürfnis nach einer neuen Repräsentation. Die kriegsmüde Bevölkerung suchte nach neuen Wegen des Politischen.

Was wurde auf dem Kongress beschlossen? Vergesellschaftet werden sollten so Industrien, nicht der Handwerksbetrieb von nebenan. In Bezug auf unser Volksbegehren geht es um dasselbe. Der Reichsrätekongress formulierte so einen Auftrag an die Nationalversammlung. Diese jedoch hatte erst einmal nicht vor, den Enteignungsparagraphen zu übernehmen. Erst in Reaktion auf die Märzstreiks von 1919, also durch politischen Druck vom unten, wurden zwei entsprechende Artikel in den Verfassungsentwurf eingefügt. Die Möglichkeit der Vergesellschaftung wurde demnach basisdemokratisch erkämpft.

Die Idee der Vergesellschaftung ging schließlich in die Verfassung der Weimarer Republik ein:

„Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen.“

Artikel 156 Weimarer Reichsverfassung

Das 1949 verabschiedete westdeutsche Grundgesetz, das als Provisorium gedacht war, nahm die Idee des Weimarer Verfassungskompromisses schließlich auf.  

Bleibt eine Frage zum Schluss: Wenn also ein Volksbegehren, das Selbstverwaltung in einem wichtigen Wirtschaftsbereich herstellt, nicht demokratisch ist, was dann? 

Zum Weiterlesen:

Abendroth, Wolfgang (1966): Das Grundgesetz. Einführung in seine politischen Probleme. Neske, Pfullingen (= Politik in unserer Zeit, 3).

Dieter Braeg / Ralf Hoffrogge (Hg.): Allgemeiner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. 16.- 20. Dezember 1918 Berlin – Stenografische Berichte, 2. durchgesehene Auflage: Dezember 2018.